Geschichte des Census
1946: Die Anfänge
1946 nahm der Census seinen Anfang als gemeinsames Projekt des Kunsthistorikers Richard Krautheimer (1897–1994) vom Vassar College in New York, Fritz Saxl (1890–1948), Direktor des Warburg Institute in London, sowie dem Archäologen Karl Lehmann (1894–1960), der an der New York University angestellt war. Alle drei waren vor der Verfolgung jüdischer Akademiker*innen aus Deutschland geflohen und hatten neue Positionen im Ausland finden können. Die ursprüngliche Forschungsfrage des Census war erstmals 1945 formuliert worden, als Krautheimer und seine Frau Trude Krautheimer-Hess eine Monographie über den Renaissance-Bildhauer Lorenzo Ghiberti verfassten: Krautheimer merkte an wie schwierig es sei, spezifische Informationen über antike Monumente zu finden, die im 15. Jahrhundert in Italien bekannt gewesen waren. So entstand die Idee ein Instrument zu schaffen, das die konkreten antiken Werke, die den damaligen Künstlern bekannt waren bzw. bekannt hätten sein können, systematisch erfassen würde. Krautheimer schlug Saxl vor, einen „Corpus von Antiken“, welche in der Renaissance bekannt waren, zusammenzustellen. Im Frühling 1946 gingen das Warburg Institute und die NYU einer Partnerschaft ein, um einen Census aufzubauen, der visuelle (damals begrenzt auf skulpturale und figürliche Kunstwerke) und textbasierte Quellen der Renaissance (primär aus dem 15. Jahrhundert in Italien) umfassen sollte, die antike Kunstwerke rezipierten. Die Methode der Wahl war das Sammeln von Informationen auf Karteikarten, die – wann immer möglich – mit Fotografien kombiniert bzw. ergänzt werden sollten.
Richard Krautheimer, c. 1940, Fritz Saxl, 1939; Karl Lehmann, c. 1950
1947: Phyllis Bober
1947 begann die amerikanische Archäologin Phyllis Pray Bober die Ideen der Census-Gründer umzusetzen und dem Census die Kontur zu verleihen, die er im Grunde bis heute aufweist. Bober stellte Hunderte alphabetisch organisierter Karteikarten zusammen, von denen jede einzelne Texte und Kunstwerke der Renaissance auflistete sowie ihr Verhältnis zu einem bestimmten antiken Monument nachvollzog. Die Photographic Collection des Warburg Institute erwarb und katalogisierte darüber hinaus fotografische Reproduktionen sowohl der antiken als auch der frühneuzeitlichen Kunstwerke. In dieser frühen Phase des Census war der Projektumfang auf antike Skulptur und deren Rezeption in der Renaissance (ca. 1400–1530) beschränkt.
Phyllis Pray Bober
1957: Ruth Rubinstein
Der Census war seit 1949 ein offizielles Projekt des Warburg Institutes, an seiner Spitze stand Phyllis Bober als Direktorin. In den ersten Jahren begann Enriquetta Frankfort, Direktorin der Photographic Collection, gemeinsam mit Bober, die Bildquellen des Projekts zu erschließen. Mit der Einstellung von Ruth Rubinstein im Jahr 1957 als Assistentin an der Photographic Collection mit besonderer Verantwortung für den Census erhielt das Projekt weiteren Auftrieb und in Rubinsteins Person eine langjährige Vorkämpferin.
Über die folgenden Jahrzehnte erwarb Rubinstein Fotografien von Skizzenbüchern und Zeichnungen nach der Antike für den Census und bewirkte auf diese Weise, dass die Photographic Collection des Warburg Institutes zu einem der wichtigsten Forschungszentren für Renaissance-Zeichnungen aufstieg. Das Warburg Institute unterstützte darüber hinaus die Arbeit des Census, indem es zahlreiche Kataloge von Renaissance-Skizzenbüchern in den Studies of the Warburg Institute veröffentlichte.
1980er: Digitalisierung
Als Anfang der 80er-Jahre eine Kooperation mit der Bibliotheca Hertziana unter der damaligen Leitung von Matthias Winner und Christoph Luitpold Frommel vereinbart wurde, war es den beiden Architekturhistorikern ein Anliegen, auch antike Bauwerke in den Census aufzunehmen.
Bereits Ende der 70er-Jahre war mit dem Gedanken an eine Computerisierung des Karteikartensystems gespielt worden. Die Ausweitung des zu erfassenden Materials auf die komplexe Gattung der Architektur bot nun ein weiteres Argument, diesen Weg einzuschlagen. Zur selben Zeit initiierte der J. Paul Getty Trust sein Art History Information Program, das den Einsatz elektronischer Datenverarbeitung für die Geisteswissenschaften erproben sollte.
Dank Unterstützung durch den Getty Trust konnte mit der Programmierung des digitalen Census begonnen werden. Ab 1981 wurde unter der Leitung von Arnold Nesselrath in Rom in Zusammenarbeit mit dem Programmierer Rick Holt das Datenmodell ausgearbeitet und zunächst eine Eingabe‑, später auch eine Abfrage-Version programmiert. Für die Entwicklung eines Datenmodells mussten die komplexen Informationen auf den Karteikarten von Bober und Rubinstein in eine klare Struktur überführt werden. Ein großer Vorteil des objektrelationalen Modells ist die Möglichkeit, von allen Seiten auf die Informationen zugreifen zu können. War das Karteikartensystem nur über die Namen der antiken Monumente zu „betreten“, so konnten die computerisierten Daten nun von allen Seiten her abgefragt werden.
Arnold Nesselrath
1990er: Berlin
Der nächste Ortswechsel des Projekts fiel auch mit dem Wechsel in die nächste technische Generation zusammen. Die Förderung des Projekts durch die Bibliotheca Hertziana endete 1995. Horst Bredekamp, gerade an die Humboldt-Universität berufen, setzte sich erfolgreich für eine dauerhafte Angliederung des Projekts an das heutige Institut für Kunst- und Bildgeschichte ein. Zusätzliche Förderung erhielt das Projekt durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung.
In den ersten Berliner Jahren wurde die Datenbank-Software umgestellt. Mit dem Umzug auf das System Dyabola, bei dem das Datenmodell an sich nicht verändert wurde, war nun die Eingabe an mehreren Stationen möglich. Auch die vormals nur an den Standorten London und Rom mögliche Konsultation wurde durch die Publikation der Datenbank auf CD bzw. später auf DVD deutlich vereinfacht. 2000 wurde schließlich auch die erste Internet-Version des Census zur Verfügung gestellt.
Database in Dyabola
2000er: Der Census Online
Auch die nächste Etappe des Census ging mit dem Anbruch einer neuen technischen Generation einher. Als das Census-Projekt 2003 mit einer Laufzeit bis 2017 in das Akademienprogramm der BBAW aufgenommen wurde, gehörte es zu einer der wichtigsten Aufgaben, die Daten im Open Access zur Verfügung zu stellen. Die vormals lizenzierte Dyabola-Datenbank wurde mit der Unterstützung der Akademie und des Telota-Teams erneut in ein anderes System überführt und 2007 mit einer neuen webbasierten Software online und ohne Zugangsbeschränkung bereitgestellt.
Die inhaltliche Ausrichtung des Projekts hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt nur hinsichtlich der Ausweitung des Zeitraums sowie der Aufnahme von Architektur und Münzen verändert. Die Fragestellung ist stets dieselbe geblieben: Welche Antiken waren wo und in welchem Zustand während der Renaissance bekannt?
EasyDB 4
2020er-
Im Juni 2020 wurde die US-amerikanische Kunsthistorikerin Kathleen Christian als Professorin an das IKB der Humboldt-Universität zu Berlin berufen und wurde damit auch Direktorin des Census.
Ab 2021/22 wird der Census ein Software-Update und eine neue Benutzeroberfläche erhalten und die Datenbank auf ihre Transformation in Linked Open Data vorbereitet. Auch die fotografischen Ressourcen der Datenbank werden erneuert, was die Nutzer*innen in die Lage versetzen wird, auf tausende neuer Fotografien von antiken Monumenten sowie Zeichnungen zuzugreifen, die beispielsweise aus den Musei Capitolini in Rom, der Albertina in Wien, der Biblioteca comunale in Siena oder dem Ashmolean Museum in Oxford stammen.
Das 75-jährige Bestehen des Census-Projekts fiel in das Jahr 2021 und wurde durch die Online-Ausstellung „75 Jahre, 1946–2021. Von Karteikarten zur Online-Datenbank“ zelebriert.
Kathleen Christian